Arbeitstagung der DGE zu hochverarbeiteten Lebensmitteln (UPF) mit Blick in die Praxis

Prof. Dr. Jakob Linseisen, wissenschaftlicher Leiter der Tagung, gibt eine Einführung in das Tagungsthema
© DGE, Foto: TobiasVollmer.de
Kein neues Thema – aber aktuell und wichtig
DGE-Präsident Prof. Dr. Bernhard Watzl, wies darauf hin, dass das Thema „Lebensmittelverarbeitung und ernährungsphysiologische Qualität“ schon seit Jahrzehnten von Interesse sei. Bereits das Autorenteam Dr. Karl von Koerber, Thomas Männle und Prof. Dr. Claus Leitzmann ordneten Lebensmittel in der Vollwert-Ernährung nach ihrem Verarbeitungsgrad ein, in einer aktuellen Publikation nun auch die American Heart Association. Prof. Dr. Jakob Linseisen, Wissenschaftlicher Leiter der Tagung, verwies zu Beginn auf die bestehenden Fronten, die sich insbesondere an dem schwierigen NOVA-Konzept und der Einteilung von Lebensmittel als Ultra-Processed Food abarbeiten. Dabei ist das inhaltliche Anliegen von Prof. Monteiro die Verdrängung der ursprünglichen Ernährungsmuster durch günstigere Produkte der Ernährungsindustrie mit ihren negativen gesundheitlichen Folgen zu verhindern. Aus Sicht von Prof. Linseisen geht es darum, den Verzehr von hochverarbeiteten Lebensmitteln zu begrenzen, wie es auch ernährungswissenschaftliche und medizinische Fachgesellschaften seit langem empfehlen.
DGE-Präsident Prof. Dr. Bernhard Watzl begrüßt die Teilnehmenden vor Ort und im Livestream
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Problem vieler UPFs: Zu hohe Energiedichte und weiche Textur
Im Überblick über die aktuelle Forschung zu UPF stellte Dr. Ralf Greiner vom Max Rubner-Institut in Karlsruhe Konzepte zur Lebensmittelklassifizierung vor, allen voran das am häufigsten verwendete NOVA-System, und bewertete dies aus lebensmitteltechnologischer Sicht. Anhand der Ergebnisse epidemiologischer Studien zeigte Prof. Dr. Jutta Dierkes von der Universität Bergen in Norwegen den Zusammenhang zwischen dem Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel (nach NOVA-Gruppe 4) und dem Risiko für chronische Erkrankungen und vorzeitiger Mortalität. Die vorliegenden Interventionsstudien zeigen eindeutig, dass eine UPF-reiche Ernährung zu einem Anstieg des Körpergewichts (Fettmasse) führt. Dies sei eine direkte Folge der höheren Energiezufuhr, sagte Prof. Linseisen. Es wurde deutlich, dass der Verarbeitungsgrad allein wenig über die Wirkung eines Lebensmittels auf die Gesundheit aussagt. Problematisch bei den UPF sei die überwiegend hohe Energiedichte, das Zuviel an Fett, Zucker, und Salz, und die weiche Textur dieser Lebensmittel, so dass sie zu einer hohen Energiemenge pro Zeiteinheit führen. Nicht jedes UPF ist allerdings „ungesund“. Das Fazit der Referierenden lautet: Der übermäßige Verzehr hochverarbeiteter Produkte – insbesondere der hohe Verzehr von HFSS-(high fat, sugar, salt)Lebensmitteln mit einem hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz – ist problematisch, und das ist seit langem bekannt.
Wirken sich auch Zusatzstoffe negativ auf die Gesundheit aus?
Zusätzlich könnten die Verwendung von Zusatzstoffen und die Art der Verpackung eine wichtige Rolle bei der Entstehung von chronischen Krankheiten spielen. Dr. Mathilde Touvier vom National Institute of Health and Medical Research (Inserm) in Paris stellte Daten aus der NutriNet-Santé-Kohorte vor. Durch die Verknüpfung mit Herstellerdaten sind erstmals Informationen über Lebensmittel-Zusatzstoffe – einzeln und in Kombination mehrerer Zusatzstoffe – im Detail verfügbar. Die Ergebnisse zeigen zum Beispiel Assoziationen zwischen Zusätzen von Nitrit, Süßstoffen und Emulgatoren mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebserkrankungen und Typ-2-Diabetes. Diese Ergebnisse machen eine Überprüfung und Neubewertung von Zusatzstoffen und deren Kombinationen notwendig.
Was verstehen Konsumierende unter UPF?
Wie bekannt UPF sind, verdeutlichte Prof. Dr. Britta Renner von der Universität Konstanz anhand von Google-Trendanalysen der letzten Jahre. In Großbritannien beispielsweise ist das Suchinteresse nach UPF seit 2023 deutlich gestiegen, während dieser Begriff bzw. hochverarbeitete Lebensmittel in den Suchanfragen in Deutschland bislang kaum eine Rolle spielt. Stattdessen stehen Fertigprodukte und Fast Food stärker und mit steigender Tendenz im Fokus. Studien zeigen, dass Produkte wie Softdrinks, Snacks und Burger häufig als UPF erkannt werden, UPF aber auch oft falsch eingeschätzt werden. Renner führte aus, dass Konsumierende diese Lebensmittel als industriell verarbeitet und nicht „natürlich“ wahrnehmen. „Natürlich“ wird häufig automatisch mit gesünder, sicherer, nachhaltiger und schmackhafter gleichgesetzt, was Akzeptanz und Konsum der als natürlich geltenden Produkte erhöhen kann – selbst, wenn objektiv sicherere oder qualitativ hochwertigere Alternativen verfügbar sind.
Renner verdeutlichte, dass beispielsweise pflanzliche Alternativprodukte im Vergleich zu den tierischen Pendants als stärker verarbeitet und deshalb auch als weniger gesund betrachtet werden. Das führe zu einer geringeren Kaufbereitschaft. Wichtig sei es daher, dass Konsumierende das Produkt richtig einschätzen können, betonte Renner. Denn, wie auch das jüngste WBAE-Gutachten zeige, können Alternativprodukte einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Ernährung leisten.
UPF in der Ernährungsberatung: Erkennen und einordnen
Dass UPF längst auch Thema in der Ernährungsberatung und -therapie sind, berichtete Dr. Claudia Laupert-Deick aus Bonn aufgrund ihrer Erfahrung aus eigener Praxis. Diese Produkte gelte es im Beratungsprozess zu erkennen, einzuordnen und mit Blick auf die Therapieziele zu besprechen. Am Beispiel von Erdbeermüsli als UPF verdeutlichte sie, wie den Klient*innen gesündere Alternativen bewusst gemacht werden können und bei Verlangen nach einem Snack statt einem Griff nach Gummibärchen eine „Snack-Attack-Dose“ mit Nüssen Abhilfe schaffen kann.
UPF in der Gemeinschaftsverpflegung: Nährwerte vergleichen
In der Gemeinschaftsverpflegung sind vorverarbeitete Lebensmittel fester Bestandteil der Speisenproduktion. Sie werden anhand von Fertigungsstufen oder Verarbeitungsgraden kategorisiert. Für den Einsatz von verarbeiteten Lebensmitteln hat die DGE in den DGE-Qualitätsstandards Anforderungen formuliert. Dr. Ernestine Tecklenburg von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg erläuterte, dass sich hochverarbeitete Produkte in diesem Bereich nicht vollständig vermeiden lassen. Durch einen Nährwertvergleich der Produkte könnten Speiseanbietende allerdings eine gute Auswahl treffen.
UPF in Sozialen Medien häufig beworben
Auch aus den Sozialen Medien sind UPF nicht mehr wegzudenken. Anhand von Netzwerkanalysen verdeutlichte Dr. des. Eva-Maria Endres von der Hochschule Anhalt, dass sich die breite Themenvielfalt im Bereich Ernährung im Jahr 2024 im Wesentlichen auf die Themenfelder „Grillen und Fleisch“ und „vegan bzw. pflanzenbetonte Ernährung“ bezogen haben. Beide Communities haben eine Vorliebe dafür, zuhause zu kochen. Für Lebensmittel- und Kochkompetenzen bieten die Sozialen Medien eine große Datenbank. Insbesondere auf Instagram ist Ernährung eines der Topthemen. Allerdings dienen die Sozialen Medien auch als Werbeplattform. Im Durchschnitt werden 12 Werbeinhalte pro Minute gezeigt. In fast 70 % der Kinder-Influencer*innen-Videos tauchen Produkte auf. Häufig beworbene Produkte sind Snacks, Süßigkeiten und Softdrinks, gelegentlich auch Obst. Zwei Drittel der markengebundenen Produkte entsprechen Nutri-Score D oder E, unmarkierte Produkte meist Nutri-Score A.
Wie Studien zeigen, führt Werbung für ungesunde Snacks unmittelbar zu höherer Energieaufnahme, was auch auf die Wirkung von Influencer*innen zurückzuführen ist. Sie haben eine hohe Glaubwürdigkeit und beeinflussen Kinder und Jugendliche stärker als Expert*innen, obwohl ihnen oft Fachwissen fehlt und kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen. So erhalten 96 % der „Superspreader“ von ernährungsbezogenen Falschinformationen finanzielle Anreize. Mögliche Maßnahmen zum Gegensteuern sieht Endres in strengeren Regulierungen, zum Beispiel das Trennen von Werbung und Inhalten wie in Printmedien, dem Stärken von Medien- und Gesundheitskompetenz sowie der Zusammenarbeit zwischen Fachorganisationen und Influencer*innen.
„Differenzieren, nicht Dämonisieren“
In der Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Jutta Dierkes, Prof. Dr. Sascha Rohn, Technische Universität, Berlin, Prof. Dr. Martin Smollich, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck, und Dr. Johanna Conrad, Leitung DGE-Referat Wissenschaft, Bonn, wurde deutlich, dass mehr Differenzierung bei der Einordnung von hochverarbeiteten Lebensmitteln notwendig ist. Nicht jedes UPF sei automatisch ungesund, wie das Beispiel Säuglingsnahrung eindrücklich zeige. Wichtig seien die Zusammensetzung bzw. das Nährstoffprofil. Klar wurde zudem, dass neben Ernährungsbildung und Verhaltensprävention die Verhältnisprävention wichtig ist. Hier sei auch die Politik gefragt. Was heute bekannt ist, sollte in die politische Umsetzung kommen, zum Beispiel durch eine geringere Besteuerung von Obst und Gemüse, „Zuckersteuer“, Werbeverbot für Kinderlebensmittel, Verbot von Sponsorship bei Veranstaltungen oder verständlichere Kennzeichnung von Lebensmitteln. Moderator Prof. Dr. Jörg Meier, Hochschule Neubrandenburg, schlussfolgerte, dass noch viel Bedarf bestehe, Expert*innen-Wissen weiterhin zu sammeln und neue Disziplinen zu integrieren. Auch der Gesetzgeber sei gefragt, um die genannten Zielkonflikte auszugleichen. Gleichzeitig könne jede*r in seinem eigenen Umfeld kleine Schritte einer individuellen Reduktionsstrategie gehen.
Welche Schlussfolgerungen sind möglich?
Prof. Linseisen fasste in seinem Fazit die aktuelle Situation und Diskussion zu hochverarbeiteten Lebensmitteln zusammen:
- Es ist klar, dass die Definition nach NOVA wissenschaftlich nicht haltbar ist; an neuen Konzepten wird gegenwärtig gearbeitet.
- Da ein Großteil der UPF-Lebensmittel auch HFSS-Lebensmittel sind (deren Zufuhr ohne Zweifel minimiert werden sollte), kann sofort daran gearbeitet werden, deren Zufuhr zu verringern. Dazu soll das gesamte verfügbare Instrumentarium genutzt werden, von der Aufklärung bis hin zu finanziellen Anreizen, konkret durch die Einführung einer Zuckersteuer und die Verringerung der Mehrwertsteuer für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte.
- Die Rolle der Zusatzstoffe ist neu zu überprüfen und zu bewerten. Auf dieser Basis sind dann entsprechende regulatorische Maßnahmen von den zuständigen Stellen zu treffen.