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Wenn der Teller leer bleibt – Fachtagung zur Ernährungsarmut in Deutschland

In Deutschland sind etwa 3 Mio. Menschen von Ernährungsarmut betroffen. Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch gesundheitliche und psychosoziale Konsequenzen.
Logo der Veranstaltung Ernährungsarmut, Man sieht einen leeren Teller

© wsf-f - stock.adobe.com

Die Corona-Pandemie und die derzeitige Inflation haben die Situation zusätzlich verschärft. Darauf hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) in seiner aktuellen Stellungnahme zur „Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen“ hingewiesen. Lesen Sie hierzu auch den Bericht und das Interview in Ernährungs Umschau 5/2023 ab Seite M304.

Diese Entwicklung beeinflusst auch die Gemeinschaftsverpflegung, für deren optimale Ausgestaltung sich die DGE mit ihren Qualitätsstandards in den verschiedenen Lebenswelten einsetzt.

Auf der gemeinsamen Online-Fachtagung der Sektionen und der DGE-Hauptgeschäftsstelle am 23.05.2023 präsentierten Forschende aus verschiedenen Fachrichtungen ihre Sicht auf die Ernährungsarmut und diskutierten mit über 100 Teilnehmenden aus Politik, Verwaltung und Praxis mögliche Lösungsansätze sowie Beispiele aus der Praxis. Prof. Dr. Jörg Meier, Hochschule Neubrandenburg, moderierte die Veranstaltung.

Essen ist mehr als reine Nahrungsaufnahme

Die Geschäftsführerin der DGE, Dr. Kiran Virmani, wies in ihrer Einführung darauf hin, dass Essen weit mehr bedeutet als reine Nahrungsaufnahme. Neben gesundheitlichen Auswirkungen ist vor allem die soziale Teilhabe entscheidend. Beides kommt bei Armut zu kurz. „Mit 5,70 € pro Tag ist eine gesundheitsfördernde Ernährung nicht möglich“, bestätigte Prof. Dr. Achim Spiller, Universität Göttingen. Nicht nur die Bürgergeld-Empfänger* innen könnten sich damit nicht gesundheitsförderlich ernähren, sondern auch alle Menschen, deren Budget nur knapp darüber liegt. Problematisch sei zudem der zu geringe Fokus auf das Thema Ernährungsarmut in Politik und Gesellschaft. Als Gründe nannte er die durchschnittlich wohlhabende Gesellschaft in Deutschland, methodische Herausforderungen in Studien sowie einen – im Vergleich zu vielen anderen Ländern – geringen staatlichen Einfluss in Ernährungsfragen.

Keine Daten zu Ernährungsarmut

Die Daten der KiGGS-Studien ergeben klare Assoziationen zwischen einem geringen sozialen Status und Übergewicht bzw. Adipositas bei Kindern. Allerdings fehlen in Deutschland wissenschaftliche Studien, die die Mangelernährung von Kindern mit Ernährungsarmut erfassen, resümierte Prof. Dr. Jakob Linseisen, Universität Augsburg. Umso wichtiger sei eine hochwertige Gemeinschaftsverpflegung im Kindesalter, denn kostenfreie Kita- und Schulverpflegung stellen bei Ernährungsarmut wichtige Sicherheitsnetze dar. Linseisen verwies auch auf die große Bedeutung der Tafeln und weiterer caritativer Essensangebote: Während vor der Corona-Pandemie 1,65 Mio. Menschen täglich die Tafeln aufsuchten, stieg ihr Anteil im Jahr 2022 um weitere 50 %.

Maßnahmen gegen Ernährungsarmut

Prof. Dr. Britta Renner, Universität Konstanz, forderte zur Verbesserung der prekären Situation verschiedene Maßnahmen:

  • Unbürokratische finanzielle Transfers statt Sachleistungen für mehr Planbarkeit und weniger Stress
  • eine hochwertige Kita- und Schulverpflegung für alle Kinder sowie
  • mehr staatliche Unterstützung der Tafeln und Co.

Sie forderte zudem – adressiert an Bund, Länder und Kommunen – eine qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung durchzusetzen und evidenzbasiert schrittweise beitragsfrei zu machen.

Best Practice Beispiele

Wie eine Verbesserung in der Gemeinschaftsverpflegung gelingen kann, machte der Ökotrophologe Christoph Bier aus dem saarländischen Ministerium für Umwelt, Klima, Mobilität, Agrar und Verbraucherschutz an der Einführung der verpflichtenden DGE-Qualitätsstandards in Schulen des Landes deutlich. Als Erfolgsfaktoren nannte er eine klare Kommunikation („DGE-Qualitätsstandards sollen verbindlich werden“), Fortbildungen für Caterer sowie deren Selbstverpflichtung zur Einhaltung der DGE-Qualitätsstandards, die vereinfachte DGE-Zertifizierung und nicht zuletzt engagierte Mitstreiter*innen. Über kostenloses Mittagessen an Hamburger Schulen berichtete Prof. Ulrike Arens-Azevêdo, HAW Hamburg. Auch hier überzeugten die Vorteile: Alle Kinder profitierten vom gemeinsamen Essen in ansprechender Atmosphäre – sowohl durch soziale Teilhabe als auch mit steigender Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Zudem würden Stigmatisierung und Diskriminierung vermieden.

Fazit

Das Thema Ernährungsarmut benötigt dringend mehr Aufmerksamkeit. Dazu ist die Erhebung wissenschaftlicher Daten zur Ernährungssituation Armutsbetroffener inklusive Monitoring erforderlich. DGE und WBAE fordern für alle Menschen den Zugang zu einer gesundheitsfördernden Ernährung. Dabei spielt die Gemeinschaftsverpflegung eine herausragende Rolle, da über sie jeden Tag etwa 16 Mio. Menschen mit mindestens einer Mahlzeit erreicht werden. Die Qualitätsstandards der DGE für die Gemeinschaftsverpflegung sollten daher verpflichtend werden. Insbesondere im Kindesalter ermöglicht eine hochwertige, kostenfreie Kita- und Schulverpflegung soziale Teilhabe, verbessert die Gesundheit aller und vermeidet Stigmatisierung und Diskriminierung. Aber auch armutsbetroffene Senior*innen profitieren sozial und gesundheitlich von einer unbürokratisch zur Verfügung gestellten und qualitativ hochwertigen Gemeinschaftsverpflegung. Die DGE kann neben den Qualitätsstandards auch mit Angeboten wie ihrer Fachberatung für die Gemeinschaftsverpflegung, Medien, Weiterbildungen und Schulungen für Fachpersonal und Multiplikatoren ihren Beitrag leisten – übergreifend und vor Ort in den Ländern.

Die kompakte Veranstaltung hat für das Thema Ernährungsarmut mit seinen ökonomischen, gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen sensibilisiert. Weitere Formate zur Praxis und Information für Verantwortliche in Bund, Länder, Kommunen, Politik und weiteren Stakeholdern sind in Planung.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in Ernährungs Umschau 7/2023 M446-447, Der Text ist lizensiert unter CreativeCommons BY NC ND Lizenz