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SuSe-II-Studie: Frauen in Deutschland stillen wieder mehr

Interview mit Prof. Dr. troph. Mathilde Kersting auf DGE-Blog

Ergebnisse der SuSe-II-Studie

Die Ergebnisse der Studie über „Stillen und Säuglingsernährung in Deutschland – SuSe-II-Studie” veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) im Vorfeld zum 14. DGE-Ernährungsbericht.

Prof. Dr. troph. Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartment Kinderernährung (FKE), Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Ruhr-Universität Bochum, forscht seit vielen Jahren zum Thema Stillen. Seit der Gründung im Jahr 1994 ist sie Mitglied in der Nationalen Stillkommission.

Der DGE-Ernährungsbericht

Der DGE-Ernährungsbericht erscheint alle vier Jahre als Komplettausgabe im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).

Im Vordergrund stehen Fragen wie zum Beispiel: Was und wie viel wird in Deutschland gegessen? Wie verändern sich das Ernährungsverhalten und die Versorgung der Menschen?

DGE-Blog:

Frau Prof. Kersting, Sie führten bereits 1997-1998 die erste Studie SuSe-I durch. Auch in der zweiten Studie ging es darum, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Säuglinge im ersten Lebensjahr in Deutschland ernährt werden und wie die Beratung junger Familien noch praxisnäher werden kann.

Was hat Sie an den jetzt vorliegenden Ergebnissen am meisten überrascht?

Prof. Kersting:

Es hat sich in den letzten 20 Jahren einiges getan, seitdem wir die erste Studie zum Stillen durchgeführt haben.

Der Anteil der Mütter, die in den ersten Monaten ausschließlich stillen, ist gestiegen und insgesamt wird länger gestillt. Dass so viele Mütter ihr Kind noch am Ende des 1. Lebensjahres teilstillen, hätte ich nicht erwartet.

Die Studie zeigt, wie entscheidend eine gute Beratung gerade in der Anfangsphase des Stillens ist.

Beratung und Unterstützung erfolgen idealerweise in einem Kontinuum. Sie beginnen bereits vor der Geburt, werden in der Klinik mit praktischer Anleitung intensiviert und nach der Entlassung Zuhause fortgeführt. Krankenhäuser haben hier eine wichtige Brückenfunktion.

SuSe-II-Studie zeigt, dass nach 12 Monaten noch 41 % der Kinder gestillt werden.

DGE-Blog:

Über viele Jahrzehnte war die Selbstverständlichkeit des Stillens verlorengegangen. Das ist bis heute zu spüren. Was hat sich verändert?

Prof. Kersting:

SuSe II zeigt, dass die Tendenz hin zum Stillen geht. Manche Mütter hören zwar hin und wieder immer noch mal den Satz: „Was, Du stillst immer noch?“. Insgesamt wird Stillen heute aber viel positiver gesehen als früher.

„10 Schritte zum erfolgreichen Stillen“

Gemeinsam veröffentlichten die Weltgesundheits-organisation (World Health Organization, WHO) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) 1989 die „10 Schritte zum erfolgreichen Stillen“ und starteten damit die Initiative „Stillfreundliches Krankenhaus“.

In Anlehnung an die Empfehlungen von WHO und UNICEF gab die 1994 gegründete Nationale Stillkommission Deutschlands die „Stillempfehlungen“ für Mütter heraus. Diese Stillempfehlungen sind in verschiedenen Sprachen verfügbar.

Lesetipp UNICEF-Blogbeitrag: Die 13 größten Mythen des Stillens und was dahintersteckt

Die Nationale Stillkommission

Gegründet wurde die Nationale Stillkommission (NSK) 1994, mit der Hauptaufgabe, dass Stillen in Deutschland zu fördern und dabei zu unterstützen, eine neue Stillkultur in Deutschland zu entwickeln. Seit 2019 ist die NSK am neu gegründeten Institut für Kinderernährung am Max Rubner-Institut (MRI) angesiedelt.

Die NSK berät die Bundesregierung, gibt Stellungnahmen und Empfehlungen heraus und unterstützt u. a. Initiativen zur Beseitigung bestehender Stillhindernisse, wie z.B. zum Thema Brusterkrankungen in der Stillzeit oder durch Werben für mehr Akzeptanz des Stillens in der Öffentlichkeit.

Die DGE engagiert sich zusammen mit weiteren Organisationen, Berufsverbänden und Fachgesellschaften in Deutschland in der NSK.

DGE-Blog:

Mal ganz praktisch gefragt: Was ist mit immer wieder auftretenden Problemen? Beispielsweise, dass die Milchmenge nicht ausreicht oder wunde Brustwarzen?

Prof. Kersting:

Zum frühen Abstillen wird oft eine nicht ausreichende Milchmenge angeführt. Die Mutter sieht nicht, wieviel das Kind trinkt, anders als bei Flaschennahrung. Wenn dann das Baby verstärkt nach der Brust verlangt, kann das verunsichern, wird das als Zeichen von zu wenig Milch gesehen. Dabei regt gerade erst das verstärkte Saugen des Kindes die Muttermilchproduktion an.

Dann ist die richtige Beratung entscheidend. Das zeigt beispielsweise auch der rückläufige Einsatz von Stillhütchen. Das ist ein überraschend gutes Ergebnis unserer Studie. Das richtige Anlegen des Säuglings ist ein entscheidender Faktor, um wunden Brustwarzen vorzubeugen.

DGE-Blog:

Dem Personal und der Klinikorganisation kommt ein großer Anteil am Stillerfolg zu?

Prof. Kersting:

Ja, wie bereits eingangs gesagt, Krankenhäuser haben eine wichtige Brückenfunktion. Bedenken Sie die Herausforderung für das Stillen gerade in der sensiblen Anfangsphase. Der Aufenthalt in den Kliniken ist heute viel kürzer als vor 20 Jahren. Und die ersten Tage sind ganz wichtig. Der Übergang von der sogenannten Anfangsmilch auf die volle Milchbildung ist zu diesem frühen Zeitpunkt oft noch gar nicht abgeschlossen. Die Probleme kommen i. d. R. dann, wenn die Mutter früh entlassen wird. Dann muss sie wissen, wo sie Hilfe bekommt.

Maßgeblich sind daher entsprechende Informationen für die Mütter durch die Kliniken, so wie es auch in den „10 Schritten“ für die Stillförderung im Krankenhaus empfohlen wird. Mütter brauchen nach der Entlassung außer der ärztlichen Vorsorge eine entsprechende Hebammennachsorge, die ihnen gesetzlich zusteht, aber auch Stillambulanzen der Geburtsklinik, Selbsthilfegruppen und die Unterstützung der Partner*innen sind wichtig. Bereits im Geburtsvorbereitungskurs kann auf die Bedeutung der Nachsorge aufmerksam gemacht werden.

Anteil gestillter Kinder

Die Ergebnisse der SuSe-II-Studie zeigen, dass gut 20 Jahre nach der ersten Datenerhebung in der SuSe I-Studie mehr Kinder im Alter von vier Monaten ausschließlich von ihren Müttern gestillt werden.

DGE-Blog:

Warum wird die Ernährung mit Muttermilch heute wieder positiver gesehen?

Prof. Kersting:

Früher wussten wir nicht so viel über die ganz spezielle Zusammensetzung der Muttermilch. Heute lernen wir mehr und mehr, dass es kein Ersatzprodukt gibt, das an die Qualität der Muttermilch herankommt. Wir werden das einzigartige Gefüge der Inhaltsstoffe der Muttermilch nie nachmachen können. Zum Schutz des Stillens ist zum Beispiel auch Werbung für Säuglingsmilch auf Europäischer Ebene deutlich eingeschränkt.

Die ausschließliche Ernährung des Babys mit Muttermilch in den ersten Lebensmonaten stärkt die Immunabwehr und kann u. a. Übergewicht beim Kind vorbeugen. Muttermilch ist praktisch, da sie im Prinzip immer verfügbar ist, sie ist hygienisch und hat Vorteile für den Umweltschutz. D. h., praxisrelevante Vorteile sind beim Stillen auch immer da. Auch passt sich Muttermilch im Laufe der Stillzeit optimal dem Nährstoffbedarf der Säuglinge an.

DGE-Blog:

Was ist mit den Partner*innen? Manche sehen ein Problem darin, dass durch das Stillen die Versorgung nur bei der Mutter liege.

Prof. Kersting:

Partner*innen können das Kind genauso versorgen, auch ohne Stillen. Der Sinn des Stillens ist nicht allein die Mutter-Kind-Dyade, in der durch gegenseitige Signale das Kind genau die Milchmenge bekommt, die es benötigt. Bei Erweiterung auf eine Familien-Triade können beide Eltern voll miteinbezogen werden. Über Tragen, Körperpflege und Halten lässt sich eine enge Verbindung zu dem Kind aufbauen. Von der Familien-Triade profitiert auch die Partnerschaft. Sie kann zur Stabilisierung beitragen.

DGE-Blog:

Was sind die entscheidenden Punkte, dass es mit dem Stillen klappt?

Prof. Kersting:

Wichtig ist, es mit Lockerheit anzugehen und ohne Druck. Ernährung hat sehr viel mit Psychologie zu tun. Wenn Mütter zuversichtlich und offen sind, dann klappt es nach unseren Erkenntnissen auch mit dem Stillen oft besser. Zur Entspannung kann auch beitragen, wenn den Frauen bewusst ist, sollte es mit dem Stillen nicht klappen, dass ihnen dann qualitativ hochwertige Ersatznahrung zur Verfügung steht. Wichtig ist, Stillen als etwas Schönes und Entspanntes zu sehen.

Die „10-Schritte-zum-erfolgreichen-Stillen“ haben sich bewährt. Wenn Mütter ihr Kind zu Welt bringen, brauchen sie eine gewisse Individualität. Mutter und Kind brauchen Zeit für sich. Dazu gehört, das Kind direkt nach der Geburt bei der Mutter zu belassen, dem Kind Zeit zum Suchen der Brust zu geben und eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Früher gab es in den Kliniken strengere Regeln. Da hat sich bereits viel getan, wie unsere Daten aus den Kliniken in der SuSe-II-Studie zeigen.

Ein weiterer Faktor für den Stillerfolg ist Stillen nach Bedarf. Vor der Geburt war das Kind im Mutterleib 24 Stunden versorgt. Das Baby muss sich erst an die unterbrochene Versorgung gewöhnen, da sind strenge Zeitvorgaben unnatürlich und eher kontraproduktiv.

DGE-Blog:

Was kann das Personal in den Kliniken hier tun?

Prof. Kersting:

Für Ruhe und Entspannung sorgen, den Frauen Zutrauen, Sicherheit zu ihrem Körper und in die natürlichen Vorgänge vermitteln. Es gibt Kliniken, die auch nach der Entlassung die Möglichkeit der telefonischen Beratung anbieten. Das ist wichtig, um im akuten Problemfall zu helfen und so das Weiterstillen zu ermöglichen.

DGE-Blog:

Viele Mütter sind berufstätig. Ist das nicht eher kontraproduktiv für das Stillen?

Prof. Kersting:

Berufstätigkeit der Mutter und Stillen schließen sich nicht gegenseitig aus. Das neue Mutterschutzgesetz zielt auch auf Berufstätigkeit und Stillen ab. Elternzeit ist wichtig für das Stillen, goldrichtig. Hier ist geregelt, welchen Schutz Arbeitgeber*innen den Müttern bieten müssen. Mütter sollten sich über die Stillförderung informieren und sich zeitig mit ihren Arbeitgeber*innen in Verbindung setzen und Absprachen zum Ablauf treffen. Für Arbeitgeber*innen ist es von Vorteil, wenn sie gute Mitarbeiterinnen haben, auf die sie zählen und die sie auch behalten können.

Beikost

Beikost als Ergänzung zur Muttermilch erhalten Kinder heute später als vor 20 Jahren.

DGE-Blog:

Die DGE empfiehlt, vier bis sechs Monate ausschließlich zu stillen und danach mit der Beikost anzufangen. Heißt das, die Stillzeit geht dann im Grunde ihrem Ende zu?

Prof. Kersting:

Nein, beifüttern wird im Englischen „complementary feeding“ genannt, was so viel wie „Nahrung ergänzen“ bedeutet. Auch das deutsche Wort Beikost trifft genau, um was es geht: weiter stillen mit Beifüttern fester Nahrung, aber nicht Abstillen.

Das Kind entwickelt zunehmend Fertigkeiten Brei vom Löffel zu essen, schaut mehr und mehr darauf, was die Menschen in seiner Umgebung machen und eifert dem nach. Einige greifen dann früher, andere später nach Essen. Hier geht das Kind von ganz alleine seinen Weg, ganz automatisch, aber es braucht Anregungen seine Fähigkeiten zu entwickeln und einzuüben. Daher ist auch die Empfehlung, Beikost ganz locker einzuführen.

Wenn Eltern da Zutrauen haben, ich gebe meinem Kind das zu essen was seiner Entwicklung entspricht, dann gelingt die Einführung der Beikost gut. Hier haben uns die Studienergebnisse der SuSe-II-Studie auch sehr positiv überrascht. Sie zeigen, dass die Kombination von Stillen und Beikost noch bis zum Ende des 1. Lebensjahres häufig praktiziert wird.

DGE-Blog:

Mit welcher Methode zur Datenerhebung sind sie vorgegangen?

Prof. Kersting:

Bei der SuSe-II-Studie haben wir grundsätzlich dieselben Methoden verwendet wie bei der Vorläuferstudie. Wir haben in SuSe II alle bundesdeutschen Geburtskliniken angeschrieben. Da die Kliniken mit der Patient*innen-Versorgung und aufwändigen Dokumentationspflichten bereits sehr in Anspruch genommen sind, war die Teilnahme erwartbar gering. Kliniken, von denen wir keine Rückmeldung erhalten hatten, erhielten zusätzlich ein Fax und ein Einladungsvideo mit einer persönlichen Ansprache. Mitgemacht haben dann insgesamt 16 %.

Die Krankenhäuser hatten die Aufgabe, einen Fragenbogen zu ihrem Stillmanagement auszufüllen und Mütter von reif geborenen Kindern in einem Zeitraum von 14 Tagen pro Krankenhaus zur Studie einzuladen. Dieser Studienansatz ermöglichte es uns, ganz frühe Stilldaten von Müttern zu erhalten und die Mütter im weiteren Verlauf des 1. Lebensjahres des Kindes wiederholt zu befragen.

DGE-Blog:

Was sehen Sie als Herausforderung bei der aktuellen Studienlage über das Stillen?

Prof. Kersting:

Wir erreichen nicht alle Bevölkerungsschichten mit dieser aufwändigen Studienmethodik, erhalten aber detaillierte Daten. Überrepräsentiert sind Mütter mit höherem Bildungsabschluss und ggf. Mütter, die offen für das Stillen sind. Daher können wir nicht ausschließen, dass unser Studienkollektiv die Diversität von Müttern heute nicht vollständig abbildet.

Überblick der Ergebnisse

Die Tabelle bietet über einen Zeitraum von 12 Monaten einen Überblick der Ergebnisse aus der SuSe-II-Studie.

Die große Herausforderung ist, Mütter an einer Erhebung zu beteiligen, die ggf. weniger gebildet sind und herauszufinden, wie sie zum Stillen motiviert werden können und welche Unterstützung sie benötigen. Die Daten die wir aus Deutschland und Europa kennen zeigen einhellig, dass in den unteren sozialen Schichten seit vielen Jahren weniger gestillt wird.

DGE-Blog:

Wie ist die Situation in anderen Europäischen Ländern?

Prof. Kersting:

Die skandinavischen Länder waren immer schon stillfreundlich und verfügten über sehr viele Selbsthilfegruppen. Aktuelle Daten zeigen allerdings, dass sie bei den Stillraten nicht mehr so weit überlegen sind, wie sie mal waren. Deutschland liegt in Europa im oberen Bereich. Hingegen ist die Stillsituation beispielsweise in England und Irland nicht so gut.

DGE-Blog:

Wo sollte in der Stillförderung weiter angesetzt werden?

Prof. Kersting:

Zum einem braucht es weitere Forschung, um gerade auch Mütter zu erreichen, die von den Stillfördermaßnahmen noch nicht ausreichend profitiert haben. Das beginnt bereits mit der Entscheidung für das Stillen schon vor der Geburt. Wir benötigen entsprechende Daten, um zu wissen, wo wir im deutschen Gesundheitswesen speziell ansetzen können.

Stillen sollte bereits bei Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft Gegenstand der Beratung sein und dann auch bei den U-Untersuchungen bei den Kinderärzt*innen. Dafür braucht es entsprechende Wertschätzung auch in den Richtlinien.

Und ich empfehle, dass Mütter auch von sich aus in der Klinik aktiv nach Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten in ihrem Umfeld nach der Entlassung fragen.

DGE-Blog:

Vielen Dank für das Gespräch.