Hochverarbeitete Lebensmittel
Ihre Rolle für die menschliche und planetare Gesundheit – ein ernährungswissenschaftlicher Fachbeitrag von Dr. Angela Bechthold
Immer stärker dominieren hochverarbeitete Lebensmittel – insbesondere in Ländern mit hohem Einkommen – die Lebensmittelversorgung. Sie verdrängen die Ernährung aus natürlichen Lebensmitteln und frisch zubereiteten Speisen. Mittlerweile nimmt ihr Anteil auch in den meisten Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen rasch zu.
Dr. Angela Bechthold

© Dr. Angela Bechthold
Autorin Dr. Angela Bechthold ist freie Wissenschafts-Journalistin und kommuniziert über Wissenschaftsthemen mit dem Schwerpunkt Ernährung und Gesundheit.
Der Beitrag “Hochverarbeitete Lebensmittel” ist zuerst in der Januar-Ausgabe 2022 des DGE-Wissenschaftsmagazin erschienen.
Hintergrund ist, dass sich die Lebensmittelversorgung und das Kauf-, Koch- und Essverhalten der Menschen in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat.
In vielen Regionen der Erde besteht die Ernährung nicht mehr aus dem Verzehr natürlicher Lebensmittel und frisch zubereiteter Speisen, sondern aus hochverarbeiteten Lebensmitteln (engl. ultra-processed foods, UPFs).
In Deutschland, Großbritannien, Kanada und den USA tragen UPFs etwa die Hälfte zur gesamten Energiezufuhr bei (Monteiro et al. 2018b, Popkin et al. 2021b, Niggemeier et al. 2016).
Zeitgleich mit der Ausbreitung von UPFs ging die körperliche Aktivität zurück und Adipositas und ernährungsmitbedingte chronische Krankheiten wurden häufiger (Baker et al. 2020, Monteiro et al. 2018a).
Die Lancet Commission beschreibt Adipositas, Unterernährung und Klimawandel als eine „globale Syndemie“. Sie meint damit die Synergie der drei „Pandemien“, die weltweit zeitlich und örtlich zusammen auftreten, interagieren, komplexe Folgen und gemeinsame Gründe haben. UPFs sind einer der wichtigsten Gründe (Swinburn et al. 2019).
Was sind hochverarbeitete Lebensmittel?
Hochverarbeitete Lebensmittel – Ultra-processed Foods UPFs erkennen

© Peter Bond / Unsplash
Verbraucher*innen können UPFs beispielsweise mit Hilfe der Produktdatenbank „Open Food Facts“, gibt es auch als App, identifizieren. Dort wird neben Zutatenliste, Nährwertangaben, Eco-Score und Nutri-Score auch die Verarbeitungsstufe (NOVA-Gruppe) von Produkten angezeigt.
UPFs sind verzehrfertige Produkte, die durch Kombination von lebensmittelbasierten oder synthetischen Zutaten hergestellt werden. Die Zutaten sind meist nur industriell verwendete Substanzen wie hydrierte Öle, Glucose-Fructose-Sirup, Proteinisolate und Zusatzstoffe. Die Kombination der Zutaten kann die sensorischen Eigenschaften von unverarbeiteten oder minimal verarbeiteten Lebensmitteln imitieren.
Für die Herstellung von UPFs sind hochtechnisierte industrielle Prozesse erforderlich. Charakteristisch für UPFs ist, dass sie lange haltbar, verzehrfertig oder erhitzbar und sehr schmackhaft sind (Monteiro et al. 2019, Monteiro et al. 2018a, Monteiro et al. 2010). Sie werden in der Regel ansprechend verpackt und intensiv vermarktet (Popkin et al. 2021b).
Durch billige Zutaten sind sie hoch profitabel für die Hersteller (Monteiro et al. 2019, Poti et al. 2017). Die genannte Definition von UPFs entspricht Gruppe 4 der im Jahr 2010 eingeführten NOVA-Klassifikation (Monteiro et al. 2019, Monteiro et al. 2018a, Monteiro et al. 2010).
Durch billige Zutaten sind sie hochprofitabel für die Hersteller.
Diese teilt Lebensmittel nach Umfang und Zweck ihrer Verarbeitung ein. Lebensmittelverarbeitung meint im Allgemeinen alle Maßnahmen während des Herstellungsprozesses, die den natürlichen Zustand eines Lebensmittels verändern.
Leere Kalorien – geringe Nährstoffdichte und hohe Energiedichte
UPFs haben eine geringe Nährstoffdichte und eine hohe Energiedichte. Sie enthalten oft viel Fett, insbesondere gesättigte und trans-Fettsäuren, Salz, zugesetzten Zucker in verschiedenen Formen, haben einen hohen glykämischen Index und sind arm an Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und anderen bioaktiven Verbindungen. Je höher der Anteil der UPFs, desto schlechter ist die Qualität der Ernährung insgesamt (Gupta et al. 2019, Monteiro et al. 2018a, FAO 2019, Martini et al. 2021, Koiwai et al. 2019).
Durch die Verarbeitung ändert sich die Lebensmittelmatrix. Zur Herstellung von UPFs werden natürliche Lebensmittel aufgespalten (physische Zerlegung) oder in isolierte Zutaten fraktioniert (Trennen von Bestandteilen), die dann in einer künstlichen Matrix rekombiniert und mit Zusatzstoffen versetzt werden. Je nach Produkt, z. B. bei Fertiggerichten, können UPFs auch mehr oder weniger naturbelassene Lebensmittel enthalten (Fardet et al. 2020).
Zwiespältige Lebensmittelsicherheit für Verbraucher*innen
UPFs durchlaufen Prozesse, die konservieren und lange haltbar machen. Von daher gibt es für Verbraucher*innen ein äußerst geringes Sicherheitsrisiko während Lagerung und Verzehr (Gallo et al. 2020, WHO 2017). Gleichzeitig enthalten UPFs Substanzen, die in Lebensmitteln mit geringerem Verarbeitungsgrad nicht oder weniger vorhanden sind, z. B. bei der Verarbeitung unbeabsichtigt entstehende Stoffe sowie gezielt genutzte Zusatzstoffe.
Obwohl nur zugelassene Zusatzstoffe eingesetzt werden, gibt es Bedenken hinsichtlich nicht untersuchter langfristiger bzw. durch Kombination mehrerer Zusatzstoffe ausgelöster negativer gesundheitlicher Wirkungen, z. B. auf das Darmmikrobiom (Fardet et al. 2020, Lee et al. 2020). Im Mai 2021 bewertete die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff (E 171) wegen möglicher Genotoxizität als nicht mehr sicher (Younes et al. 2021). Außerdem können Substanzen aus Verpackungen in das Lebensmittel übergehen, wie z. B. endokrin wirksame Bisphenole und Phthalate aus Kunststoffverpackungen (Buckley et al. 2019).
Die Matrix spielt eine wichtige Rolle für die Verdaulichkeit und die Verfügbarkeit von Nährstoffen, Energie und sekundären Pflanzenstoffen (Shahidi et al. 2021, Capuano et al. 2018, Grundy et al. 2016).
Auch das Sättigungspotenzial hängt von der Lebensmittelmatrix ab. Feste Lebensmittel sind sättigender als weichere und flüssige Lebensmittel (Chambers 2016). Im Allgemeinen ist der glykämische Index von UPFs höher als der von unverarbeiteten Lebensmitteln, was neben dem Zuckerzusatz auch an der Aufspaltung oder Fraktionierung von Lebensmittelzutaten liegen könnte (Fardet et al. 2019).
Gut belegt: Erhöhte Krankheitsrisiken für chronische ernährungsmitbedingte Krankheiten
Für verarbeitetes Fleisch und zuckergesüßte Getränke als Subgruppen der UPFs sind die Zusammenhänge zwischen ihrem Konsum und Risiken für chronische ernährungsmitbedingte Krankheiten durch meta-analytische Auswertungen gut belegt:
© krblokhin/iStock/Getty Images Plus
Der Verzehr von verarbeitetem Fleisch ist mit erhöhtem Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf- Krankheiten, Darmkrebs und Mortalität assoziiert (Händel et al. 2020, Schwingshackl et al. 2018).
Zuckergesüßte Getränke erhöhen das Risiko für Adipositas und Karies sowie auch für Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Krankheiten (Malik et al. 2019, Schwingshackl et al. 2018).
Beispiel für ein „verarbeitetes Lebensmittel“:

© iglo mit zusätzlichen Änderungen durch stephane / Open Food Facts
Kritik am Konzept der UPFs
Insgesamt ist schwer nachweisbar, welche Ursachen und Mechanismen den beobachteten Zusammenhängen zwischen UPFs und Krankheitsrisiken zugrunde liegen (Marino et al. 2021). Einige Wissenschaftler*innen erachten das Konzept der UPFs daher als irreführend. Sie kritisieren, dass unklar ist, ob der Verarbeitungsgrad oder nicht einfach die ernährungsphysiologische Qualität das entscheidende Kriterium ist (Poti et al. 2017, Vergeer et al. 2019, Capozzi et al. 2021, Marino et al. 2021).
Hinsichtlich der epidemiologischen Studien wird außerdem kritisiert, dass die Verzehrdaten zur Gruppe der UPFs meist aus Häufigkeitsfragebögen und Ernährungsprotokollen stammen, die nicht speziell für die Erhebung von UPFs validiert sind (Marino et al. 2021).
Ein weiterer Kritikpunkt an der NOVA-Klassifikation ist, dass auch in Gruppen mit niedrigerem Verarbeitungsgrad energiedichte und nährstoffarme Produkte vorkommen und dass die UPFs eine sehr diverse Gruppe darstellen. Zu UPFs gehören nicht nur Junk Foods, sondern auch Lebensmittel, die in Ernährungsempfehlungen vorkommen oder die wie glutenfreie oder vegane Produkte als „gesund“ vermarktet werden (Fardet et al. 2019).
Die meisten pflanzlichen Milch- und Fleischersatzprodukte sind UPFs (Drewnowski 2021) und innovative Alternativen, wie kultiviertes Fleisch oder Eier aus Pflanzenprotein, werden wahrscheinlich als UPFs eingestuft (Capozzi et al. 2021). Auch wären Nuancierungen bei der Verwendung des Begriffs UPFs erforderlich, wie z. B. bei den Fertiggerichten, die komplett aus rekombinierten Zutaten oder komplett oder überwiegend aus natürlichen Lebensmitteln bestehen können.
Gefahr für die Nachhaltigkeit des Lebensmittelsystems
Den Ergebnissen einer Übersichtsarbeit zufolge gefährden UPFs alle Dimensionen der Nachhaltigkeit des Lebensmittelsystems, und zwar aufgrund der Kombination von im Einkauf preiswerten Zutaten und weltweit steigender Produktion (Fardet et al. 2020). Die Produktion von UPFs ist mit intensiver Landwirtschaft verbunden, die für Verdrängung nachhaltiger Landwirtschaft, Abholzung von Wäldern, Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden sowie reduzierte Biodiversität verantwortlich ist.
Von den 10 000 Pflanzenarten, die Lebensmittel für Menschen sein können, werden nur etwa 150 kommerziell angebaut. Allein Reis, Weizen, Mais und Kartoffeln decken 50 % des weltweiten Energiebedarfs, wobei sie für die massive Produktion von (modifizierter) Stärke und Zuckersirupen verwendet werden, die in UPFs eingesetzt werden. Zudem sind intensive Monokulturen sehr energieaufwändig.
Auch die Fraktionierung von frischen Lebensmitteln in massenweise benötigte Zutaten für die Herstellung von UPFs – statt des lokalen Verzehrs weitgehend unverarbeiteter Lebensmittel – ist ressourcenintensiv, ebenso wie die aufwändige Verpackung, die wiederum zu massiver Plastikverschmutzung beiträgt (Fardet et al. 2020, Seferidi et al. 2020).
Beispiel für ein „hochverarbeitetes Lebensmittel“:

© tenlight / Open Food Facts
Verdrängen von kleinbäuerlichen Strukturen und traditionellen Zubereitungstechniken
In Brasilien sind seit 1987 ernährungsbedingte Treibhausgasemissionen um 21 %, der Wasserverbrauch um 22 % und die Landnutzung um 17 % gestiegen, was mit gestiegenem Konsum von (hoch)verarbeiteten Lebensmitteln (v. a. Fleischprodukten) assoziiert wird (Da Silva et al. 2021). In Australien machen Lebensmittel wie UPFs mehr als ein Drittel der ernährungsbedingten Umwelteffekte aus, wobei sich dieser Anteil bis 2050 voraussichtlich verdoppeln wird (Hadjikakou 2017). Da viele der UPFs Junk Foods sind bzw. diskretionär – also unnötig oder sogar ungünstig für die menschliche Ernährung – kann ihre Produktion als verschwenderische Nutzung von Land und Ressourcen angesehen werden.
Die durch sie verursachten Umweltauswirkungen wären vermeidbar und ihre Einschränkung eine simple Strategie, ernährungsbedingte Umweltauswirkungen zu verringern (Seferidi et al. 2020, Fardet et al. 2020). So kann beispielsweise das Umstellen einer hyperkalorischen auf eine normokalorische Ernährung durch die Einschränkung von „unnötigen“ Lebensmitteln wie UPFs die Treibhausgasemissionen um 25 % reduzieren (Hendrie et al. 2016). Auch negative kulturelle und sozioökonomische Auswirkungen werden UPFs zugeschrieben, wie die Verdrängung traditioneller Zubereitungstechniken und Mahlzeiten und die Gefährdung der Existenz von Menschen in kleinbäuerlichen Strukturen durch das Monopol und die niedrigen Preise der wenigen UPFs erzeugenden transnationalen Großkonzerne (Fardet et al. 2020).
Produktion und Konsum verringern
Die Lebensmittel der Gruppe der UPFs sind sehr divers, was es schwierig macht, allgemeine Schlussfolgerungen allein auf Basis des Verarbeitungsgrads zu ziehen. Der Grad der Verarbeitung sollte daher nicht das einzige Kriterium bei der Betrachtung der Auswirkungen von Lebensmitteln auf Gesundheit und Umwelt sein.
Klar ist jedoch, dass unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel den UPFs vorzuziehen sind, und dabei der größte Teil pflanzlich sowie möglichst regional erzeugt und unverpackt sein sollte. Weltweit weniger UPFs zu konsumieren ist wichtig, um die Umweltauswirkungen des Lebensmittelsystems zu verringern und Ernährungssicherheit zu gewährleisten (Swinburn et al. 2019). Gleichzeitig verbessert es die ernährungsphysiologische Qualität der Ernährung. So fordern u. a. Weltgesundheitsorganisation und Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen Maßnahmen, um den Konsum von UPFs zu senken (Popkin et al. 2021b).
Helfen verpflichtende Maßnahmen wie Warnhinweise auf Verpackungen?
Auch in lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen wird der Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln mehr und mehr mitberücksichtigt, z. B. in Australien (NHMRC 2013), Brasilien (Monteiro et al. 2015) und Flandern (Flemish Institute of Healthy Living 2021), und die American Heart Association empfiehlt neuerdings, minimal verarbeitete Lebensmittel anstelle von UPFs zu wählen (Lichtenstein et al. 2021).
Am Beispiel anderer Länder zeigt sich, dass die Politik durch verpflichtende Maßnahmen wie Warnhinweisen auf Verpackungen, Verbot von UPFs in Schulen, Werbebeschränkungen und steuerliche Anreize helfen kann, den Konsum sowie Adipositas und ernährungsbedingte Krankheiten zu verringern (Popkin et al. 2021a).
Vielen Dank für diese ausführlich und umfangreicher Darstellung, ich werde das sicher weitergeben